Zwischen einer Vielzahl von Kulturen – Tunesien, Ukraine, Frankreich, Deutschland… – beschäftigt sich Nadia Kaabi-Linke mit der Frage nach dem Unsichtbaren, mit einer möglichen Übersetzung des Unbewussten und des Nichtgesagten. Sie begibt sich auf die Suche nach Spuren, Abdrücken und Schichten. Die Künstlerin, die an der Kunsthochschule in Tunis und an der Sorbonne in Paris ausgebildet wurde, möchte ihr Werk nicht in einen narrativen Prozess einbetten, sondern vielmehr einzelne Situationen festhalten. Diese sind zugleich brutal und ästhetisch, zwischen Licht und Schatten changierend.
Ihre Ausdrucksmittel variieren – mit einer gewissen Vorliebe für Monumentales, für Arbeit in situ und für Objekte, die roh und rau zugleich sind. Kohle, Tinte, Wachs, Sand, Stein, Haare, Metall etc. sind Teil ihrer Installationen. Sie kratzt, reibt, fügt zusammen, gräbt, errichtet… Es gibt immer ein Jenseits, eine zusätzliche Oberfläche zu ihren Schichten; da sind Überlagerungen sowohl in ihren Ansätzen als auch in den verwendeten Techniken. Die hängenden Käfige von Flying Carpet (2011) erinnern visuell an den Abdruck der Teppiche der Straßenverkäufer in den großen Hauptstädten und an metallische Gefängnisaufhängungen, während Walk the Line (2015) die Grenze zwischen Texas und Mexiko und die illegale Textilindustrie materialisiert. Mit The Altarpiece (2015) überträgt sie den Abdruck eines Bunkers aus dem Zweiten Weltkrieg auf Platten, um ein Triptychon zu schaffen… Einschusslöcher und Vergoldungen existieren nebeneinander. In ihren jüngsten Projekten sind Bänke mit Metalldornen bedeckt. Ihr Werk ist dicht, strahlt eine Art Wut aus und ist sehr kontrastreich. Es ist eine Arbeit des Widerstands, in der sie Geschichte und Gesellschaft, kulturelle und persönliche Identitäten und die Grenzen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren neu betrachtet. Nadia Kaabi-Linke nähert sich dem Leben in Schichten, die sie aufschichtet oder skalpiert.
Fasziniert von der Symbolik der Waage und der Zerbrechlichkeit der Gerechtigkeit liefert die Künstlerin eine persönliche Interpretation. An der Grenze zum Ready-made nimmt sie bei Salt & Sand einen leichten Eingriff vor, indem sie das Objekt an einer Kette aufhängt und die Waagschalen mit Salz und Sand füllt. Aufgespürt auf einem Fischmarkt in Kalkutta, füllt sich dieses schöne Utensil mit dem Wasser in der Atmosphäre und gerät dadurch aus dem Gleichgewicht. Das Wasser als schwer fassbares, zerbrechliches und geheimnisvolles Element ist von wesentlicher Bedeutung. Die Waage bezieht sich auch auf die Kolonialgeschichte Indiens: den Salt Sathyagraha Marsch oder gewaltfreien Salzmarsch. Dieser 24-tägige Marsch im Jahr 1930 gegen die Salzgesetze der britischen Regierung ist ein entscheidender Moment in der Geschichte der Unabhängigkeit des Landes. Das Unsichtbare ist das, was man nicht fangen kann… ebenso wenig wie Gerechtigkeit und Wahrheit.